Experiment: Ein Jahr mit dem iPhone 11 Pro als einzige Kamera - Teil 1
„Hilfe, ich habe G.A.S. und brauche ein Downgrade" – das könnte das Motto dieser neuen Artikelreihe sein. Lesen Sie, weshalb ich mein spiegelloses Fujifilm Foto- und Videosystem verkaufe und für mindestens ein Jahr allein auf das iPhone 11 Pro als Kamera setze.
Teil 1 - Warum?
Kurze Antwort: Weil ich keine Lust mehr habe, so viel Zeug mit mir herum zu schleppen und das iPhone 11 Pro das erste Smartphone ist, dessen Foto- und Videoqualitäten mich wirklich überzeugen.Lange Antwort: Lesen Sie weiter.
Was bisher geschah
Schon im Alter von 16 Jahren machte ich ein einjähriges Betriebspraktikum im Fotostudio und Labor einer Werbeagentur. Dort wurde ich vom ersten Tag an in der Produktion eingesetzt und lernte alles rund um Fotografie und Grafikdesign im Eiltempo. Mit 18 begann ich, Fotografie und Filmdesign zu studieren, arbeitete zunächst als Werbefotograf und später viele Jahre als Standfotograf bei Film- und Fernsehproduktionen („Liebling Kreuzberg", „Strassen von Berlin", „Tatort" u.v.m).Im Laufe der Jahre bin ich ganz schön rumgekommen und habe so ziemlich alles genutzt, was fotografieren kann – von Grossbild-Fachkameras über Mittelformat und Kleinbild bis zu Polaroid. Doch irgendwann hatte ich keine Lust mehr, meinen Lebensunterhalt mit Fotografie zu verdienen, wurde Spielfilm-Tonmeister und knipste nur noch, was mir gefiel.
2012 wechselte ich von Nikon Spiegelreflex-Kameras zum spiegellosen Fujifilm X-System. Ich wollte einfach kleinere Sachen haben und Fuji schien mit den Halbformat-Kameras der X-Serie einen guten Kompromiss aus Grösse, Gewicht und Bildqualität gefunden zu haben.
Tatsächlich erfüllten die meisten meiner bisherigen Fujis (X-E1, X-T1, X-T3) meine Erwartungen, oder übertrafen sie sogar. Nur mit der X100F hadere ich bis heute, aber das ist ein anderes Thema und vielleicht einen eigenen Blogpost wert.
Video - Gearporn ohne Ende
Mittlerweile habe ich den überwiegenden Teil meines beruflichen Lebens beim Film verbracht. Bewegte Bilder faszinieren mich genauso wie Fotos. Aus Neugier habe ich deshalb im vergangenen Jahr mit dem Erscheinen der Fujifilm X-T3 damit begonnen, ein bisschen mit Video zu experimentieren.Dabei habe ich eine Leidenschaft für kurze, animierte Stimmungsbilder entwickelt, wie sie zum Beispiel als Moods für Teaser oder Werbeclips verwendet werden. Dazu können auch Zeitlupen-, Zeitraffer- und Timelapse-Aufnahmen gehören. Und Bilder, in denen nur einzelne Elemente animiert sind, so genannte Cinemagraphs. Ich finde diese Genres ungeheuer spannend und möchte möglichst viel darüber lernen.
Allerdings erfordert die Produktion von Videos mit Hybrid-Kameras wie der Fuji X-T3 eine Menge an Zusatz-Ausrüstung, auch wenn die Resultate nur semi-professionellen Ansprüchen gerecht werden sollen. Möchte man möglichst hochwertige Ergebnisse erzielen, ist man schnell bei einem kleinen Rig mit Cage, Handgriffen, Stromversorgung und etwas Licht. Gerne auch mit externem Monitor oder Recorder. Und damit hört der Spass noch lange nicht auf.
Etwas Vernünftiges zum Schärfeziehen wünscht man sich meist schon beim ersten Dreh. Und natürlich jede Menge Filter. Vom Ton und dem damit verbundenen Aufwand möchte ich erst gar erst nicht anfangen. Aber ein Gimbal wäre gut! Und wie wäre es mit einer Drohne?
Wenn Equipment zur Belastung wird
Mir war klar, dass ich Kompromisse eingehen muss, um es nicht völlig zu übertreiben. Und dennoch bin ich geradewegs in die G.A.S.-Falle getappt (Gear Acquisition Syndrome - die Sucht nach immer mehr Equipment). Nach allem, was ich bisher darüber erfahren habe, scheint es mich nur milde erwischt zu haben. G.A.S. hat wohl schon so Manchen in den finanziellen oder sozialen Ruin getrieben. Darüber hinaus hat diese Art von Technik-affinem Dauer-Kaufrausch auch negative Folgen für die Allgemeinheit, etwa im Hinblick auf Umwelt und Ressourcen.Bei mir war es deshalb höchste Zeit für eine Rückbesinnung auf das, was man tatsächlich braucht und wirklich möchte. Und den Verzicht auf möglichst vieles, was man haben könnte, aber nicht haben muss.
Ausserdem bin ich es wirklich leid, immer so viel Ausrüstung bei mir zu haben. Vor allem auf Reisen. Beruflich kann ich nicht darauf verzichten, Unmengen an Zeug ständig verfügbar zu haben, aber bei den persönlichen Gerätschaften kann man heutzutage schon deutlich abspecken. Das werde ich jetzt machen. Ein Downgrade auf das neuste iPhone als einzige Kamera. Für 1 Jahr.
Künstliche Intelligenz rechnet alles schön
Ich bin in der analogen Welt aufgewachsen, habe mich aber schon immer für neue Technologien interessiert und stets versucht, sie möglichst früh zu übernehmen. Wir alle erleben gerade den Beginn eines neuen Zeitalters, in dem technische Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen nach und nach viele Bereiche unseres Lebens verändern.Für mich stellt das iPhone 11 Pro diesbezüglich einen Meilenstein dar, denn es gehört zu den ersten Hardware-Produkten für den Massenmarkt, die diese neuen Technologien intensiv einsetzen, um zum Beispiel die mickrigen Bilder ihrer eingebauten Kameras mit beeindruckender Rechenpower und ausgefeilten Algorithmen innerhalb von einer Sekunde so weit aufzupeppen, dass sie wirklich fantastisch aussehen.
Verblüffende Ergebnisse – auch bei wenig Licht
Was Apple mit „Smart HDR" und „Deep Fusion" erreicht, ist schon erstaunlich. Vergangene Woche hat jemand die Bildqualität des iPhone 11 Pro mit der der 100MP-Mittelformat-Kamera Fujifilm GFX 100 verglichen und festgestellt, dass die qualitativen Unterschiede verblüffend gering ausfallen – sofern man etwas Postpro-Arbeit investiert und weiss, was man tut (s. Video oben).Ich habe die Kameras des iPhone Pro 11 gegen die des iPhone Xs getestet. Bei normalem Tageslicht sind die Unterschiede zwar sichtbar, aber nicht dramatisch. Seine Stärken spielt das 11 Pro erst bei schwierigen Lichtverhältnissen aus – vor allem bei Video. Die Ergebnisse sind - für einen Taschencomputer - einfach sensationell. Demnächst erscheint hier bei Geek Out ein kleiner Vergleichstest.
Nachdem ich die Aufnahmen der beiden iPhones mit denen meiner beiden Fujis verglichen und in Capture One bzw. Final Cut Pro etwas bearbeitet hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich mit der Bildqualität des iPhone 11 Pro gut leben kann. Für meine Zwecke reicht das vollkommen aus. Das einzige, das ich wirklich vermisse, ist ein echter Telebereich. Aber vielleicht erbarmt sich demnächst ein Hersteller und liefert eine knackscharfe 85mm-Linse zum Aufstecken oder Einschrauben. Das würde mir schon reichen.
Weshalb das iPhone die perfekte Immer-dabei-Kamera ist
Gegenüber klassischen Kameras hat das iPhone unschlagbare Vorteile. Es ist überall dabei, immer griffbereit und im Handumdrehen einsatzfähig. Kein umständliches Kramen in irgendwelchen Taschen, keine Objektiv- oder Kartenwechsel, keine Einstellungsorgien – einfach kurz das Bild einrichten, kleine Anpassungen vornehmen, Auslöser drücken, fertig.Auf Wunsch werden die Aufnahmen automatisch über iCloud synchronisiert und stehen nach kurzer Zeit auf allen eingebundenen Geräten in Apples Foto-App zur Verfügung. Ausgewählte Bilder und Ordner lassen sich mit anderen teilen. Ausserdem ist die Übergabe von Bildmaterial von einer App zur anderen mittlerweile recht unkompliziert, so dass auch elaborierte Workflows machbar sind. Was will man mehr?
Der meiner Meinung nach grösste Vorteil von hochwertigen Smartphones ist ihre Unauffälligkeit. Niemand nimmt Notiz von einem, wenn man mit Handy in der Hand irgendwo rumsteht. Nicht mal, wenn man die fürs Fotografieren typischen Körperhaltungen einnimmt. Hantiert man aber abseits der Touristenpfade mit einer Kamera, die grösser als eine Kompakte ist, erregt das sogleich Aufmerksamkeit. Mit der X-T3 erlebe ich immer häufiger, dass ich angesprochen werde – was mir mit der X100F nur selten passiert und mit dem iPhone so gut wie nie.
Auch wenn ich im Prinzip nichts gegen solche Begegnungen habe, immer freundlich bleibe und noch nie in ernsthafte Schwierigkeiten geriet, ist es mir ehrlich gesagt lieber, wenn ich im richtigen Moment einfach fotografieren kann, ohne langweilige Fragen beantworten zu müssen. Mit dem iPhone ist unauffälliges Fotografieren viel einfacher. Auch der Zugang zu Menschen, die man fotografieren oder filmen möchte, ist mit einem Smartphone leichter, als mit einer ausgewachsenen Kamera. Die Geräte sind längst allgegenwärtig und werden kaum noch als störend empfunden.
Wie geht es nun weiter?
Ich freue mich darauf, nur noch mit „kleinem Besteck" unterwegs zu sein und mich den Herausforderungen zu stellen, die computerisierte Fotografie mit sich bringt.In den kommenden Wochen und Monaten werde ich hier auf Geek Out regelmässig über meine Erfahrungen bei diesem Experiment berichten. Mit gelegentlichen Reviews zu interessanten Produkten rund um iPhone-Fotografie und (hoffentlich) jeder Menge Praxistipps.
Und ich bin gespannt darauf, welches Fazit hier am 20.10.2020 stehen wird.
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Fotos: Thomas Landgraeber, Apple Inc, SmallRig; Video: Josh Rossi / YouTube; Text: Thomas Landgraeber;
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